Wer hat das Sagen?
Carla hat Hunger und ihr Blick schweift umher auf der Suche nach etwas Essbarem. In der Auslage eines Obstladens sieht sie einen besonders appetitlichen Apfel. Das für Nahrungsaufnahme zuständige und durch den Hunger sensibilisierte neuronale Netz im Gehirn erkennt die Chance und gerät in Erregung. Es könnte die direkte Aktion auslösen, sich diesen verführerischen Apfel zu nehmen und ihn zu verzehren wie ein kleines Kind.
Aber das benachbarte soziale Netzwerk protestiert: „Halt! Der Apfel gehört dir nicht. Erst kaufen.“ Der Kopf hört mit und ist einverstanden.
Da kommt Jakob vorbei. Er hat seit Tagen nichts Richtiges gegessen. Sieht den Apfel. Übermächtiger Hunger, niedriger seelischer Pegel. Zum Überleben zieht sein Bauch alle Energie auf sich. Obere Schichten geleert. Der Impuls, sich den Apfel zu nehmen, dringt bis zum bewussten Kopf vor. Der kann zwar noch ganz leise mahnen: „Das darfst du nicht.“ Aber der Bauch hat das Sagen, der Kopf kann nur noch zuschauen. Ohne weiteres nimmt sich Jakob den Apfel und putzt ihn schleunigst weg.
Im Zustand seelischen Gleichgewichts werden obere (Intuition, Kopf) wie untere Schichten der Software (Bauch) in gleichem Maß mit seelischer Energie versorgt und steuern das Verhalten gleichberechtigt. Sie arbeiten optimal zusammen und finden gute Lösungen. Der Kopf steuert nützliche Informationen bei und unterstützt die oberen „strategischen“ Schichten.
Verbrechen
Die Polizei sucht den Täter. Im Gehirn des seelisch ausgeglichenen Kommissars zeichnet die Intuition verschiedene mögliche Konstellationen von Motiven, Charaktermerkmalen und Tathergängen nach. Sein Kopf hilft der Intuition durch weitere Informationen zu ihren Schlüssen. Seine Ermittlungen sind durchdacht und professionell. Nichts wird außer Acht gelassen, nichts vorschnell festgelegt. Auch Kleinigkeiten werden beachtet. Bald ist der Täter ermittelt. Erfolgreiches Zusammenspiel.
Der Einfluss von Kopf und Intuition geht schnell verloren, wenn der Mensch in seelische Nöte und damit in Stress gerät. Dann übernimmt der energiesparende Bauch.
Der Kommissar im Stress
Zu viele Aufgaben und Zeitnot. Sein seelischer Pegel abgesunken, obere Schichten ausgedünnt, die Intuition eingeschränkt. Zu viele Motive und Tathergänge möglich. Seine Software zwingt ihn, Energie einzusparen. Zusammenhänge kann er nur noch schlecht erkennen, sein Kopf ist leer. Die weiteren Ermittlungen verlaufen ohne Übersicht und Professionalität. Die Folge: Sich viel zu früh festgelegt und in eine Sackgasse manövriert.
Nicht nur in diesem Fall hilft Teamarbeit. Dann gleichen sich auch momentane Stärken und Schwächen der Mitarbeiter besser aus.
Im Zustand starken seelischen Mangels ist bewusstes Handeln nicht mehr möglich. Der Autopilot des Bauches hat das Ruder übernommen. Wer also hat das Sagen? Es ist wohl immer die oberste, noch mit Energie versorgte Schicht der Software, die den bestimmenden Einfluss ausübt. Bei hohem seelischen Pegel dominieren eher die oberen Schichten von Intuition und Kopf, bei niedrigem die unteren Schichten. Mit sinkendem seelischen Pegel geht der Intuition aus Energiemangel Schicht um Schicht verloren. Sie zieht sich immer weiter zurück bis sie nur noch aus den unteren Schichten, dem Bauch besteht.
Die Steuerung durch den Bauch mit seinen elementaren und höchst individuellen Gefühlen und Antrieben ist für das Überleben zunächst ein Vorteil. Untere Schichten gründen sich nämlich auf das feste genetische Fundament der Selbsterhaltung. Alles fest verdrahtet. Oder moderner ausgedrückt hardwarebasiert. Extrem schnell und sicher, bei geringstem Energieverbrauch. Höchst individuell und nur schwer durch sich selbst oder von außen beeinflussbar.
Im „Bauch-Modus“ aber fehlt die Flexibilität, die Steuerung der Feinheit der Lebensfunktionen und die Übersicht.
Der Bauch stellt den eher genetisch bestimmten Kern des Menschen dar. Diese innerste Natur zeigt sich daher besonders deutlich unter starker Stressbelastung, also bei sehr niedrigem seelischen Pegel:
Panik statt Überlegung
Der Professor ist mit drei seiner Studenten auf Erkundungsfahrt im Schlauchboot. Sie suchen Süßwasserquellen, die aus dem Meeresboden entspringen. Überraschend kommen Sturm und Seegang auf. Der Professor gerät in Panik, gibt unsinnige Befehle. Will, dass man auf die felsige Steilküste zusteuert, weil es dahin näher ist. Dass man dort zerschellen würde, erfasst er nicht mehr. Keiner hört auf ihn. Zu ernst die Lage. Zwei halten ihn ruhig. Mit Mut und Übersicht erreichen sie die rettende Küste auf der anderen Seite. Keiner war in der Folge noch gewillt, ihn mit aufs Boot zu nehmen.
Im ausgeglichenen Zustand – also bei hohem seelischem Energieangebot – laufen in den oberen Schichten eines Menschen die Informationen aller Bereiche zusammen. Es herrschen Übersicht, ein Gesamtbild der Situation und langfristiges Denken.
In den hoch vernetzten Schichten von Intuition und Bewusstsein liegt der Schlüssel zum Menschsein.
Ein Tier kann das nicht, ihm fehlen diese übergreifenden Schichten.
Ein Hase ist ein Hase.
Gibt es zu fressen, frisst der Hase. Taucht ein Fuchs auf, springt das Verhalten des Hasen auf Verstecken oder Flucht. Eine geneigte Häsin lässt ihn auf Freiersfüßen hoppeln. Der Hase ist automatisiert und verfügt nicht über die vernetzten oberen Schichten des Menschen. Er hat kein Bewusstsein und damit keine Selbstreflexion. Er reagiert direkt auf die aktuelle Situation. Keine Gesamtschau. Er kann nicht disponieren und sagen: Jetzt baue ich erst einmal weiter an meinem Bau, bevor ich die Häsin beglücke oder lasse mir die Sonne auf den Bauch scheinen, bevor ich anfange zu fressen. Der Hase hat es gut. Er braucht nicht zu denken. Alles läuft „kopflos“. Wie energiesparend!
Manche meinen, ein Mensch würde genauso automatisch funktionieren wie der Hase, ohne Chance auf eine freie Entscheidung. Alles, was er täte, würde von seinem Bauch bestimmt und er würde sich nur einbilden, dies bewusst in die Wege geleitet zu haben. Welch‘ dröge Aussicht, nicht Herr im eigenen Hause zu sein!
Ist aber so, wenn seelische Energie fehlt. Es genügen bereits kleine Misserfolge, Ermüdung, ein niedriger Blutdruck oder ein Wetterumschwung, schon wird oberen Schichten Energie entzogen. Damit gehen Übersicht, langfristiges Denken und konsequentes Handeln schnell verloren.
Als Folge der vielen Möglichkeiten, seelische Energie zu gewinnen oder sie zu verlieren, ist der seelische Pegel großen Schwankungen unterworfen. Mit jeder schönen oder weniger schönen Empfindung, mit jedem positiven oder negativen Gedanken, der durch den Kopf geht, fluktuiert der seelische Pegel überraschend stark zwischen Momenten der Ausgeglichenheit, der Euphorie und des Mangels. Daher kann selbst in kritischer Seelenlage unversehens wieder Hoffnung aufkeimen. So können sich plötzlich Situationen höheren seelischen Pegels ergeben, in denen Intuition und Verstand – wenn auch nur kurz – genutzt werden können.
Diese spontanen Fluktuationen nach oben und unten ermöglichen unserer Software die Rettung selbst aus den ungünstigsten Konstellationen. Der Mensch gleitet auf abschüssiger Bahn nicht einfach ab und geht unter. Immer wieder tauchen positive Gedanken und Hoffnungsschimmer auf. Und vor allem Mitmenschen können die seelische Talfahrt eines anderen erkennen, ihn halten und unterstützen.
Da die höheren Schichten von Intuition und Kopf unverhältnismäßig viel Energie in Anspruch nehmen, lautet das auf möglichst hohe Effizienz ausgerichtete Arbeitsprinzip unserer Software jedenfalls:
Soviel Bauch wie möglich und nur so viel Kopf wie unbedingt nötig.
Sinkt der seelische Pegel, werden die oberen Schichten mit weniger Energie versorgt. Somit wird auch der Modus „Bewusstheit/Kopf“ immer weniger genutzt, der Modus „Autopilot/Bauch“ dafür immer mehr. Die Regie wird stetig von den oberen zu den unteren Schichten weitergereicht. Selbst merkt man das gar nicht. Wie auch.
Wenn aber eine schnelle Entscheidung gefordert ist, wie Kampf oder Flucht, kann dies nur der elementare Bauch bewältigen.
Kampf oder Flucht
Winfried ist mit seinen Goldfischen im Teich beschäftigt und bemerkt aus dem Augenwinkel ein schnell auf ihn zulaufendes Etwas. Schreck und Angst, Adrenalin schießt ihm ins Blut, setzt Energie frei.
Zum Denken keine Zeit, blitzschnell reagiert der Bauch und schaltet auf Verteidigung und lässt ihn schnell zum Keschers neben ihm greifen. Da erst bemerkt er, dass nur der Hund des Nachbarn auf ihn zuläuft. Der Hund bleibt stehen, wedelt mit dem Schwanz. Entwarnung!
Wenn die Software eine Bedrohung erkennt, sinkt schlagartig der seelische Pegel, Stresshormone werden ausgeschüttet und die Befehlsgewalt geht blitzschnell auf den schnell reagierenden Bauch über. Wäre also das Bewusstsein nur eine Art Spielerei, die die Software dann und wann gnädig zulässt? Falls es meint, sich gerade „ein bisschen Kopf“ als wohlfeile Zugabe leisten zu können?
So wie der Trainer einer Fußballmannschaft, der beim Stand von 4:0 in den letzten Minuten auch einmal Spieler aus der zweiten Reihe auf den Rasen lässt?
„Halt, halt!“, schreien die Denker auf. Richard, der Philosoph im Freundeskreis, sieht im menschlichen Geist das Höchste, was die Evolution je hervorgebracht hat. Tiefgründige Denker beweisen das seit Menschengedenken in kargen Höhlen, Steinwüsten oder in einem altgriechischen Fass. Überall reifte der höchste Geist heran.
Richard ist geradezu verschossen in die Vorstellung eines über allem schwebenden Geistes. Für diesen fordert er entgegen jeder naturwissenschaftlichen Erkenntnis, er sei emergent, das heißt so erhaben, dass er nie und nimmer von der doch viel zu banalen Hardware eines profanen Gehirns verkörpert werden könne. Von ein paar lächerlichen Neuronen oder Synapsen gleich gar nicht. Doch allerorten sieht man:
Im täglichen Leben regiert meist ganz profan der Bauch.
Wer will es denn wahrhaben, dass der Kopf mit seinem „Geist“ meist nur eine völlig überschätzte Nebenrolle spielt?
Georg, der Wissenschaftler, richtet seinen Blick ganz sachlich auf die Geschichte und auf die aktuellen Probleme der Menschheit. Seiner Meinung nach versagt der hochgeschätzte menschliche Geist hinsichtlich drängender praktischer Fragen regelmäßig, sobald er gefordert ist.
Der „Geist“ löst sich allzu leicht von der Realität, baut Luftschlösser, verschreibt sich fragwürdigen Ideologien und glaubt fest daran. Wunschdenken und Überidealisieren. Die Software nimmt unter einer anspruchsvollen Anforderung den „Geist“ als Ersten aus dem Spiel.
Georg stellt sich die pragmatische Frage, ob der Geist das menschliche Leben erleichtert, schöner und reichhaltiger macht. In den schönen Künsten zum Beispiel. Oder um menschliches Verhalten besser zu verstehen und kreative Ideen für die Zukunft zu entwickeln. Doch worauf trifft man in der Wirklichkeit?
Aufgeblasene Nichtigkeiten, „niedere Beweggründe“, „aus dem Bauch heraus“, ohne Sinn und Verstand im Alltag. Die Umgangsformen leiden. Unzulänglichkeiten, wohin man blickt.
Im gesellschaftlichen Kontext dominieren Egoismen und Machtstreben. Kurzsichtige Aktionen und vermeidbare Fehler sind die Folge. Auf diesem Substrat wachsen Zerwürfnisse, Auseinandersetzungen und Kriege mit allen Konsequenzen, weil unsere Software mit ihren Werkzeugen Aggression und Machtausübung ihre Existenz rücksichtslos behauptet.
Wo bleibt die Intuition oberer Schichten und der Kopf? Wie schön es wäre, wenn sich unter deren Regie sensible Wahrnehmung realistische Übersicht, die Fähigkeit zu strategischem Denken, diszipliniertes und soziales Verhalten entfalten könnten!
Im Stimmungstief genügen Verhalten und Entscheidungen des Menschen nicht mehr seinen intellektuellen und moralischen Ansprüchen. Zwangsläufig treten Fehler auf, auch schwere Fehler. Diese Misserfolge sich selbst zuzuschreiben, würde den seelischen Pegel weiter sinken lassen. Die Software stellt sicher, dass man Fehler auf Andere abwälzt. Man schreibt eine missglückte Aktion nicht sich selbst zu. Durch Akzeptieren einer „Fehlinvestition“ würde man noch mehr seelische Energie verlieren.
Wenn also die lästige Frage nach der Verantwortung für die Fehler aufkommt, kein Problem. Denn tief in der Bredouille tritt ein weiteres Werkzeug der Software in Aktion, der „Rechtfertigungs-Modus“. Er verwandelt den Kopf vom unabhängigen Denker mit Kritikfähigkeit zum braven Befehlsempfänger. Sein Auftrag: Verschleiern, Ausreden erdenken, die Realität fälschen.
Mit der Ausrede „Es ist nicht so, wie es aussieht“ werden auch offensichtliche Tatsachen hingebogen, um sich der Verantwortung für seine Fehler zu entziehen. Notfalls wird gelogen und betrogen, dass sich die Balken biegen. Keiner ist schuld, keiner hat etwas gewusst. Rechtfertigungsmodus? Im seelischen Mangel für die Software eine standardisierte Reaktion auf Fehler.
Bremsen
In einer scharfen Rechtskurve gerät Martins Wagen in den Gegenverkehr. Zum Glück bleibt es beim Blechschaden. Man erkennt unschwer, dass Martin zu schnell unterwegs war und klassisch aus der Kurve getragen wurde. „Die Bremsen haben versagt“, ist der Vorwurf an seinen Wagen.
Tatsächlich war Martin unkonzentriert und mit seinen Gedanken bei der heutigen Auseinandersetzung mit seinem Chef. Seelisch bis zur Grenze belastet hatte seine auf niedrigstem Niveau arbeitende Software die Kurve falsch eingeschätzt und den Bremsvorgang zu spät eingeleitet. Vollbremsung, mit starrem Blick das Lenkrad festgehalten und in den Gegenverkehr gerutscht. Eine klare Fehlleistung seiner Software und nicht der Bremsen.
Martin könnte sich eingestehen, dass er den Schaden verursacht hat und daraus lernen. Aber einen Fehler zuzugeben, würde seinen seelischen Pegel noch weiter sinken lassen. Seine Ausrede soll einen weiteren Abfluss seelischer Energie vermeiden. Also sind die Bremsen schuld. Schuldzuweisungen sind ein Standardwerkzeug unserer Software.
Der seelische Pegel sollte nie einen Interventionswert unterschreiten, ab dem der Bauch die Regie übernimmt. Denn der Kopf ist dann nur noch für Ausreden gut, der Bauch hat das Sagen!
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